Einzelhandel in der Krise: Sieben Herausforderungen
Einzelhandel in der Krise: Diese sieben Herausforderungen müssen stationäre Händler jetzt angehen, um eine langfristige Perspektive zu schaffen.
Lange Monate des Lockdowns haben sich auf viele Händler zunehmend existenzgefährdend ausgewirkt. Dabei haben sie nur einen Trend verstärkt, der schon vor der Corona-Krise sichtbar war: der stationäre Handel verliert seit Jahren an Relevanz. Der Umsatzanteil des Online-Handels wächst beständig. Mike Zöller und Dorothée Fritsch, Retail-Experten der Unternehmensberatung FTI-Andersch, beschreiben sieben Herausforderungen, die Einzelhändler jetzt angehen müssen – und was sie konkret tun können, um langfristig nicht zu verschwinden.
1) Virtuelle Erfahrung vor Ort: mit digitalen Konzepten in Stores experimentieren
International gibt es sie bereits: ‚Smart Mirrors‘ im Modehandel. Das sind Spiegel, die Kundinnen und Kunden ausmessen oder sie bei der Anprobe entsprechend in Szene setzen. Andere Beispiele für digitale In-Store-Erfahrungen: Individualisierte Handy-Navigation, Interaktion mit Remote-Beratern, automatische Bezahlung durch Sensoren und KI. Mike Zöller sagt: „Nicht nur jüngere Kundinnen und Kunden sind heute dauerhaft online. Die Lockdowns haben digitales und reales Leben noch weiter miteinander verwoben. Das muss der Handel aufgreifen – und einen fließenden Übergang zwischen den Welten entwickeln.“ Um besser zu verstehen, was bei der eigenen Zielgruppe ankommt, können Händler in ‚Digital Stores‘ gezielt experimentieren. „Bevor digitale Initiativen groß ausgerollt werden, lohnt es sich, Technologien erst einmal in Pilotprojekten auszuprobieren. Dafür eigenen sich vor allem Läden in Ballungszentren.“
2) Trend-Spotting und -Setting: (Social Media) Trends vor Ort erlebbar machen
Der tradierte Weg: der Einzelhandel bestellt, was der Großhandel gelistet hat. „Und das wird in der schnellebigen Welt zunehmend ein Problem, unter anderem aufgrund langer Vorlaufzeiten“, sagt Dorothée Fritsch. „Plattformen wie Amazon oder Zalando, aber auch vertikalisierte Handelsketten sind direkter und schneller bei ihrer Zielgruppe und können damit Trends schneller aufgreifen.“ Da sich diese Trends online abzeichnen, könnten Social-Media-Scouts, die die sozialen Netzwerke und Plattformen nach neuen Trends analysieren, eine Lösung für Einzelhändler sein. „Diese Trends können Händler dann im eigenen Store anfassbar und damit erlebbar machen“, sagt Fritsch. Das heißt: Von den Scouts ermittelte Trend-Produkte bestellen, sie der eigenen Kundschaft zum Betrachten und Probieren zur Verfügung stellen. Fritsch: „Damit geben Händler ihren Kundinnen und Kunden einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung. Und zwar nicht nur virtuell, sondern ganz physisch. So wird ein Shop-Besuch wieder relevant.“ Auch eine stärkere Flexibilisierung, unter anderem durch (partielle) Rückverlagerung der Produktion in den europäischen Raum, kann industrieseitig die „Trend-Nähe“ fördern.
3) Das Individuum im Mittelpunkt: Individualisierung zu einem Bestandteil des Handelskonzepts machen
Individualisierung ist einer der größten Trends der westlichen Gesellschaft. „Ein Meister in der Produkt-Individualisierung ist die Automobilindustrie: nahezu jedes kleinste Detail des neuen PKW kann heute individuell zusammengestellt werden“, sagt Mike Zöller. Auch Anbieter von Elektronikprodukten machen heute das Unterstreichen der eigenen Persönlichkeit mit ihren Produkten möglich, indem sie Gravuren, unterschiedliche Farben oder individuelle Details ihrer Produkte ermöglichen. Zöller sagt: „Für den stationären Handel wird es unabdingbar werden, solche Produkte vermehrt anzubieten. Besonders profitieren kann er dann, wenn die Individualisierung eines Produkts noch vor Ort und live erlebt werden kann. Dafür gilt es die Voraussetzungen sowohl beim Einkauf als auch in der Umsetzung auf der Fläche zu schaffen.“ Eine denkbare Option: das Produkt wird vorab online individuell vorbestellt – und dann stationär im Beisein der Kundinnen und Kunden finalisiert. Dies stellt auch einen Weg dar, um Lagerbestände zu verringern.
4) Neben „grünen“ Produkten: Lieferketten transparent machen und soziale Verantwortung verdeutlichen
Weil Kundinnen und Kunden sie stärker nachfragen, führen heute fast alle Händler auch nachhaltige Produkte, zum Beispiel mit verringertem CO2-Abdruck. „Im ersten Schritt können Händler Aktionen anstoßen, um alte Ware zurückzukaufen, wiederaufbereitete Produkte anzubieten oder auch Produkte aus Recyclingmaterial zu vertreiben“, sagt Dorothée Fritsch. „Nachhaltigkeit muss aber weitergedacht werden, um wirklich Teil der DNA der Händler zu werden“. Dazu gehört es, Lieferketten transparent und die Herkunft der Ware besser nachvollziehbar zu machen. „Ein Versprechen abzugeben ist gut, Transparenz noch besser“, so Fritsch. Zu Nachhaltigkeit gehöre auch die soziale Verantwortung gegenüber der Mitarbeiterschaft, Lieferanten und Partnern.
5) ‚Customer Journey‘ über alle Vertriebskanäle: Kundinnen und Kunden da bedienen, wo sie gerade sind
Vielfach noch gelebte Praxis: An der Stelle, wo der Kunde den Erstkontakt hat, wird er bis zum Kaufabschluss betreut. Mike Zöller sagt: „Dieses Denken muss aus den Köpfen. Ob Kundinnen und Kunden auf der eigenen Website, im Store, in einer App, auf einer Plattform oder in einem Social-Media-Kanal den Erstkontakt aufnehmen – dieser Kontakt muss in jedem anderen Kanal fortgeführt werden können. Es wird künftig ganz normal sein, dass Kundinnen und Kunden immer wieder zwischen diesen Kanälen springen werden. Und im Zweifel ihren Kauf in genau dem Kanal abwickeln wollen, in dem sie gerade unterwegs sind. Dafür müssen Customer-Journeys ganz neu gedacht werden.“ Diese Entwicklung greift tiefer als nur in vertriebliche Prozesse hinein: sie wird eine Veränderung der Organisation und Strukturen vieler Handelsunternehmen zur Folge haben müssen. „Technologie ist der Treiber, aber sie wird nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn sich die gesamte Organisation verändert“, sagt Zöller.
6) Grundlagen für Digitalisierung: IT-Landschaft auf neue Herausforderungen vorbereiten
Auch die technologischen Voraussetzungen für solche Veränderungen müssen geschaffen werden. Dorothée Fritsch: „Wer über eine veraltete, im Zweifel auch uneinheitliche IT-Landschaft verfügt, der droht trotz bester Konzepte frühzeitig an technischen Hürden zu scheitern.“ Die Experten von FTI-Andersch raten jetzt eine Bestandsaufnahme der IT-Landschaft durchzuführen und zu prüfen, wo Systeme zusammengelegt, Prozesse vereinheitlicht und Software erneuert werden kann. „Wer digital werden will, muss zunächst einmal den eigenen Reifegrad bestimmen und an den ‚Basics‘ arbeiten“, sagt Fritsch. „Gleichzeitig ist die gute Nachricht, dass es für nahezu alle auch hier dargelegten Ideen technologische Anbieter gibt. Vielfach wird abzuwägen sein, wo noch klassisch Hardware gekauft und Software lizenziert wird – und wo sich IT-Programme als Dienstleistungen (Software-as-a-Service) einkaufen lassen, zum Beispiel zur Datenerhebung und -analyse.“
7) Ort der Freizeitgestaltung: die Marke in der persönlichen Begegnung erlebbar machen
Mike Zöller sagt: „Click&Collect ist nicht nur ein Konzept für den stationären Handel in der Coronakrise. Es unterscheidet sich leider vielfach nicht vom sonstigen Einkaufserlebnis. Viele Händler verstehen sich auch heute noch eher als Warenlager denn als Ort des Erlebnisses. Damit können sie gegen die reinen Online-Händler langfristig nicht gewinnen, da diese deutlich effizienter arbeiten können.“ Dabei kann gerade das stationäre Erlebnis dabei helfen, auch Online-Marken aufzubauen. Zöller: „Der Handel, das kann der Ort sein, in dem ich meine Marke anfassen kann. An dem ich etwas erleben kann.“ Eine Lesung, ein Konzert, eine Modenschau, das Tuning eines Autos. „An dem ich Menschen kennenlernen kann. Zukünftig wird nur noch dort stationär Waren abgeholt, wo dies schneller geht als im Versand. Oder wo sie etwas erleben können. Auf diese einfache Rationalität müssen sich Händler jetzt einstellen“.
Quelle: Andersch AG