Eltern fordern gerechteres Schulsystem und Zentralabitur
Berlin – Eltern schulpflichtiger Kinder halten das deutsche Schulsystem für stark reformbedürftig: Wie die 3. JAKO-O Bildungsstudie zeigt, fordern sie vor allem höhere Chancengleichheit und einheitliche Bedingungen für alle Schüler in Deutschland: 92 % sprechen sich für ein bundesweites Zentralabitur aus. „Das gegenwärtige föderale System ist aus Sicht einer erdrückenden Mehrheit der Eltern willkürlich und ungerecht“, sagte der Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld bei der Präsentation der Studienergebnisse in Berlin. Das Zentralabitur werde als wesentliches Element eines gerechten Schulsystems angesehen, in dem Leistungen tatsächlich vergleichbar sind. Für die repräsentative Untersuchung wurden im Januar und Februar 2014 bundesweit 3.001 Eltern mit schulpflichtigen Kindern im Alter bis zu 16 Jahren vom Sozialforschungsinstitut TNS Emnid befragt.
Die Bildungspolitik hat Tillmann zufolge nach diesem Votum ein massives Legitimationsproblem: „Wenn neun von zehn Eltern das länderspezifische Abitur als ungerecht und abschaffungswürdig ansehen, kann das in einem demo¬kratischen Staat nicht ohne Reaktionen bleiben. Eine Bildungspolitik, die Eltern verstärkt einbeziehen will, wird mit solchen Forderungen umgehen müssen.“ Andrea Spude, stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrats, forderte mit Blick auf die Kritik der Eltern am föderalen Bildungssystem, das Kooperations¬verbot zwischen Bund und Ländern komplett aufzuheben: „Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam die Verantwortung dafür übernehmen, dass Bildung und Ausbildung in ganz Deutschland unter gleichen Rahmenbedingungen stattfinden. Der Bildungserfolg eines Kindes darf nicht davon abhängen, in welchem Bundesland es aufwächst.“
Sozialer Ausgleich statt Elitedenken
Mit 84 % bzw. 83 % hält eine deutliche Mehrheit der Eltern es für „sehr wichtig“, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Bildungschancen haben und dass Wert auf soziales Verhalten gelegt wird. 81 % wünschen sich, dass lernschwache Schüler besser gefördert werden. Fast drei Viertel (73 %) fordern, dass in allen Bundesländern die gleichen Bedingungen herrschen. Der Leistungsgedanke sollte dagegen nur für die wenigsten Eltern im Vordergrund stehen. Lediglich 27 % halten dies für ein „sehr wichtiges“ Ziel der Bildungspolitik. Aber: Von der aktuellen Praxis sind die Eltern massiv enttäuscht. Gerade die Ziele, die ihnen am wichtigsten sind, sehen sie am wenigsten realisiert. Gleiche Bedingungen in den verschiedenen Bundesländern kann nur eine Minderheit (16 %) erkennen. Lediglich ein knappes Drittel (29 %) meint, dass Chancengleichheit für alle Kinder herrscht und dass lernschwache Schüler ausreichend gefördert werden (32 %). Das wenig gewünschte Leistungsprinzip dagegen halten 72 % der Eltern an deutschen Schulen für überpräsent. Auch wenn im Vergleich zu den JAKO-O Bildungsstudien 2010 und 2012 in einigen Bereichen leichte Verbesserungen festzustellen sind, sind die Defizite des deutschen Schulwesens aus Elternsicht massiv.
Gegen Früheinschulung und frühen Übergang
Der Leistungsdruck wird von den Eltern insbesondere bei Schulanfängern kritisch gesehen. 86 % lehnen die Früheinschulung von Kindern vor dem 6. Lebensjahr ab. 8 von 10 Eltern (81 %) machen sich dafür stark, dass die Vorschulzeit frei von Leistungsdruck bleibt und verteidigen damit die kindlichen Spielräume. Auch bei der Frage nach der Dauer der Grundschule beziehen die Eltern eindeutig Stellung: Nur 24 % befürworten die gegenwärtig vorherrschende Praxis der vierjährigen Grundschule. Drei Viertel der Eltern möchten den Kindern mehr Zeit für das gemeinsame Lernen einräumen: 58 % sprechen sich für eine sechsjährige Grundschule aus, 17 % wollen den Übergang in die Sekundarstufe sogar erst nach der 9. Klasse.
G8 nicht stressiger als G9 – trotzdem: starke Ablehnung des Turbo-Abis
Bildungsforscher Tillmann äußerte sich erstaunt zur Elternsicht auf die Stressbelastung der G8-Schüler: „Die oft geäußerte Klage über den – im Vergleich zu G9 – größeren Stress und Leistungsdruck an den G8-Gymnasien spiegelt sich in den Studiendaten kaum wider.“ Sowohl in G8- als auch in G9-Bildungsgängen gehen die Kinder nach Meinung ihrer Eltern gerne zu Schule (86 % bzw. 89 %) und können die Anforderungen ohne elterliche Unterstützung gut bewältigen (jeweils 72 %). Nur sehr wenige Schüler werden von ihren Eltern für „überfordert“ gehalten (9 % bzw. 5 %). Allerdings erhalten G8-Schüler häufiger Nachhilfe als G9-Schüler (23 % bzw. 16 %) und die Eltern helfen öfter bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten (73 % bzw. 64 %).
Die Tatsache, dass in den vergangenen zwei Jahren immer mehr Gymnasialeltern selbst Erfahrungen mit G8 gemacht haben, habe die Akzeptanz des Turbo-Abis jedoch nicht erhöht, so Tillmann. Hätten sie die Wahl, würden acht von zehn Eltern (79 %) einen G9-Bildungsgang für ihr Kind wählen. Damit wird das Ergebnis der 2. JAKO-O Bildungsstudie von 2012 exakt wiedergegeben. Deutlich gestiegen ist dagegen der Anteil der Eltern, die sich ein Doppelangebot von G8 und G9 wünschen – von 41 % im Jahr 2012 auf nun 54 %.
Ganztagsschulen: Versorgungsdefizit und Verbesserungsbedarf
Wie 2012 wünschen sich 70 % der Eltern auch 2014 einen Ganztagsschulplatz für ihr Kind. „Der stabil hohe Bedarf kann zurzeit in keinem Bundesland gedeckt werden“, erklärte Tillmann. Lediglich 39 % aller Kinder besuchen bereits eine Ganztagsschule. 31 % der Elternwünsche können demnach aktuell nicht erfüllt werden. Auch wenn die Versorgungslücke in den vergangenen zwei Jahren kleiner geworden ist, sei es „dringend erforderlich, den Ganztagssektor weiterhin kräftig auszubauen“, so Tillmann. Dabei dürfe auch die qualitative Verbesserung der bestehenden Angebote nicht vergessen werden. Zwar bescheinigen die Eltern den Ganztagsschulen in der JAKO-O Bildungsstudie deutliche pädagogische Vorteile gegenüber den Halbtagsschulen. Zugleich sehen sie aber in zentralen Aspekten der Ganztagsschulpraxis erheblichen Optimierungsbedarf – insbesondere bei der individuellen Förderung der Schüler (42 %), der Verknüpfung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten sowie der Hausaufgabenbetreuung (jeweils 30 %).
Privatschulen: besser als öffentliche Schulen, aber Verschärfung der Ungleichheit
77 % der Eltern von Privatschülern meinen, dass die Kinder an einer Privatschule besser gefördert werden als an einer öffentlichen Schule. Deutlich mehr als die Hälfte (58 %) der Eltern von Schülern an öffentlichen Schulen sehen das genauso. Dies scheint zu einem großen Teil an den Lehrkräften zu liegen. Auch wenn die Leistungen der Lehrer von den Eltern in der 3. JAKO-O Bildungsstudie insgesamt gut bewertet werden: Lehrer an Privatschulen werden durchweg besser beurteilt als ihre Kollegen an öffentlichen Schulen. Eltern sehen sie als fachlich kompetenter (95 % vs. 87 %) und engagierter (88 % vs. 76 %) an. Privatschullehrer erkennen und fördern die Stärken der Kinder besser (83 % vs. 65 %) und unterstützen die lernschwachen Schüler effektiver (77 % vs. 62 %). Zudem stimmen sich die Lehrkräfte an Privatschulen aus Sicht der Eltern besser untereinander ab (79 % vs. 61 %) und setzen mehr auf moderne Unterrichtsmethoden (67 % vs. 54 %). Insgesamt bewerten die Eltern auch die Angebote, die über den Unterricht hinausgehen an Privatschulen deutlich besser (82 % vs. 59 %). „Die Unterschiede in der Bewertung zeigen, wo öffentlichen Schulen sich verbessern müssen“, sagte die Bildungsforscherin Prof. Dr. Dagmar Killus von der Universität Hamburg bei der Studienpräsentation. Die Entwicklung guten Unterrichts sei dennoch kein Privileg privater Schulen. „Dass dies auch unter den Bedingungen öffentlicher Schulen sehr gut gelingen kann, zeigt nicht zuletzt der ‚Deutsche Schulpreis‘, der in der Vergangenheit ganz überwiegend an öffentliche Schule vergeben wurde.“
Trotz der guten Bewertung stehen viele Eltern der größer werdenden Zahl an Privatschulen durchaus kritisch gegenüber. Nur die Hälfte (51 %) aller Befragten hält solche Schulen für eine sinnvolle Bereicherung des Bildungsangebots. Die Gründe liegen auf der Hand: Gut zwei Drittel (67 %) der Eltern, deren Kind eine öffentliche Schule besucht, machen Privatschulen für eine Verschärfung der Ungleichheit im Schulsystem verantwortlich. Dies meinen auch 41 % der Eltern, deren Kind eine Privatschule besucht. Dass wohlhabende Eltern ihre Kinder über den Besuch einer Privatschule von anderen abschotten, befürchten sogar über drei Viertel (76 %) der Eltern, deren Kind auf eine öffentliche Schule geht – aber auch 37 % der Eltern von Privatschülern.
Inklusion: Fortschritte und Skepsis
27 % der befragten Eltern geben an, dass in der Schule ihres Kindes bereits behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Die höchsten Werte finden sich in der Primarstufe (34 %) und in Gesamtschulen der Sekundarstufe (45 %). Inklusion findet demnach überwiegend in integrierten Schularten statt.
Einig sind sich die Eltern darin, dass die nicht behinderten Kinder durch das gemeinsame Lernen in ihrem Sozialverhalten profitieren: Fast 9 von 10 Eltern (88 %) sehen das so. Allerdings befürchtet auch knapp die Hälfte (46 %) – wie in der JAKO-O Bildungsstudie 2012 -, dass die nicht behinderten Kinder in ihrem fachlichen Lernen gebremst werden. Gut zwei Drittel (71 %) der Eltern gehen allerdings weiter davon aus, dass behinderte Kinder an Sonderschulen besser gefördert werden als an allgemeinen Schulen. Daran hat sich in den letzten zwei Jahren nichts geändert.
Entscheidend für die Zustimmung zur inklusiven Beschulung behinderter Kinder ist für die Eltern die Art der Behinderung: Bei körperlich beeinträchtigten Kindern und Kindern mit Lernschwierigkeiten sind viele Eltern für gemeinsamen Unterricht (91 % bzw. 71 %). Bei Kindern mit geistigen Behinderungen und solchen mit Verhaltensauffälligkeiten sind die Eltern skeptischer: Nur 45 % bzw. 43 % können sich hier eine gemeinsame Beschulung vorstellen. Dass Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen und mit Lernschwierigkeiten auch in Gymnasialklassen inte¬griert werden sollten, meinen lediglich 30 % bzw. 46 % der Eltern. Killus: „Schulbehörden und Schulen müssen den Dialog mit Eltern suchen und dabei auch deren Widerstände und Ängste thematisieren.“ Um eine inklusive Pädagogik an Schulen verankern zu können, seien zusätzliche Ressourcen notwendig – also mehr Lehrkräfte und mehr finanzielle Mittel. „Positiv ist, dass Eltern, die bereits über Erfahrungen mit Inklusion verfügen, ihr etwas aufgeschlossener gegenüberstehen.“
Unterstützungsleistungen der Eltern: zwischen Mitwirkung und Überforderung
Viele Schüler werden von ihren Eltern zu Hause massiv unterstützt: Zwei Drittel erarbeiten mit ihrem Kind den Lernstoff (66 %), rund drei Viertel kontrollieren Hausaufgaben (73 %) oder helfen gezielt vor Klassenarbeiten und Referaten (77 %). Die Unterstützungsleistungen der Eltern liegen damit seit der 1. JAKO-O Bildungsstudie 2010 auf einem stabil hohen Niveau. 89 % der Eltern geben an, dass sie sich verpflichtet fühlen, sich intensiv um die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu kümmern. 62 % beklagen, dass sie dabei vieles von dem leisten müssen, was sie eigentlich als Aufgabe der Schule sehen. „Angesichts anhaltender Klagen über Rückzugstendenzen der Eltern sowie mangelndem Interesse an schulischen Belangen sind diese Ergebnisse positiv zu bewerten“, sagte Bildungsexpertin Killus. Die intensive Unterstützung durch die Eltern müsse aber auch kritisch gesehen werden. Besonders wenn sie von der Schule vorausgesetzt oder sogar eingefordert werde. „Eltern mit einem niedrigeren Bildungsabschluss können ihre Kinder wahrscheinlich weniger gut unterstützen als Eltern mit einem höheren Abschluss. Ungleiche familiäre Voraussetzungen setzen sich damit in der Schule fort. Mit Chancengleichheit hat das wenig zu tun“, so Killus.
Trotz des starken häuslichen Engagements wünschen sich 58 % der Eltern mehr Möglichkeiten, um auch an der Gestaltung von Unterricht und Schule mitzuwirken. Killus: „Es wäre sinnvoll, Eltern stärker in die Gestaltung von Schule einzubeziehen. Sie können mit ihren Sichtweisen neue Impulse geben und sind bei Reformprozessen gute ‚Übersetzer‘, die Ziele und Maßnahmen nach außen und an die anderen Eltern kommunizieren können. Dieses Potenzial muss stärker genutzt werden.“
Quelle: ots