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Energiewende: „Die IT muss vom Hausmeister zum CEO werden“

Energieunternehmen haben einen immensen Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung und Innovation

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Die Energiewende ist eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Warum sie nur gelingen kann, wenn zugleich auch die digitale Transformation der Energieversorgungsunternehmen vorangetrieben wird, erklärt Andreas Viehhauser, Geschäftsführer und Managing Partner Energie & Versorgung bei ReqPOOL, im Interview.

Herr Viehhauser, wie könnte die Energieversorgung der Zukunft aussehen – vorausgesetzt, dass die die Wende tatsächlich gelingt?

„Die Zukunft könnte so aussehen: Millionen kleine und große Heimspeicher beim Verbraucher sowie E-Autos entlasten Transformatoren in Wohnstraßen und nehmen Spitzenlast beim Ein- und Ausspeisen aus dem Netz. Der Strom ist grün. Alles ist „E“. Wohnen und Heizen werden über diese Speicherkapazitäten ausschließlich mit grünem Strom und aus regenerativen Energien gewährleistet. Industrielle Fertigung wird mit Wasserstoff aus grünen Quellen betrieben – die es natürlich noch zu finden und auch hierzulande aufzubauen gilt. Die Bürger produzieren über eigene Photovoltaikanlagen und Beteiligungen an regionalen Energieparks in weiten Teilen selbst Energie. Gesteuert wird alles über moderne Haustechnik, die mit der IT der Energieversorgungsunternehmen (EVU) vernetzt ist und intelligent kommuniziert. Der Verbraucher ist zwar noch Kunde seines zuständigen EVU, aber er steuert seine Tarife, Dienstleistungsbedarfe und Services selbst – mittels Mausklick oder App. Die EVUs wiederum sind selbstfahrende Unternehmen, deren Produkte und Leistungen weitgehend autonom mittels Software-Algorithmen und Künstlicher Intelligenz gesteuert und angepasst werden. Die notwendigen Daten dafür liefet unter anderem eine Echtzeitüberwachung der Netze, der Verbräuche, der Kundenbedarfe, der Energiepreisbörsen, der Wettervorhersagen und anderer marktrelevanter Faktoren. Das ist die Zukunft einer gelungenen Energiewende und einer zugleich gelungen digitalen Transformation.“

Also hängt das Gelingen der Energiewende unmittelbar mit der digitalen Transformation zusammen?

„Ja. Der Weg dorthin aber ist noch lang und steinig, denn der Digitalisierungsnachholbedarf in den EVU ist riesig. Zwar sind diese grundsätzlich sehr technikaffin, im Vergleich zu anderen Branchen sind sie jedoch überwiegend auf reine Effizienz und Versorgungssicherheit getrimmt und konnten in der Vergangenheit personell und umsatztechnisch durch natürliche Marktgrenzen kaum wachsen. Daher fehlt ihnen der Unterbau an jungen und digital-affinen Mitarbeitern, die einen digitalen Wandel gestalten könnten. Die Kosten für externe IT-Kräfte sind derzeit hoch, zudem müssen bei den meist teil-öffentlichen EVU fast alle Leistungen mühsam und langwierig ausgeschrieben werden – ein Nachteil gegenüber der freien Wirtschaft. Die Verfügbarkeit von IT-Experten am Markt ist zudem ohnehin sehr eingeschränkt. Das gilt für Berater, Softwarehäuser, Integratoren sowie den freien Arbeitsmarkt an sich.“

Energieversorger nehmen hierzulande marktwirtschaftlich betrachtet eine Sonderrolle ein. Inwieweit hat das spezielle Geschäftsmodell Auswirkungen auf ihre Digitalisierung?

„EVU haben ein stabiles, erst in den letzten Jahren durch Marktrollentrennung und Liberalisierung aufbrechendes Geschäftsmodell. Digitalisierung bei internen Systemen ist grundsätzlich bekannt. Die Unternehmen investieren laufend viel und immer mehr Geld in IT. Sie müssen. Aber bisher laufen die Investments weitgehend nur in die IT in ihrer Rolle als reiner „Erfüllungsgehilfe“, nicht als „strategischer Treiber“ des Konzernwachstums. Digitalisierung für neue Produkte und Dienstleistungen oder direkt im Vertrieb steckt oft noch in den Kinderschuhen. EVU waren sehr lange durch Marktmonopole geschützt und mussten deswegen auch nicht innovativ digitalisieren. Die Digitalisierung konzentrierte sich auf die interne Effizienzsteigerung. Erst jetzt wird sie als Möglichkeit für Neues begriffen. Gleichzeitig sind die Systemlandschaften schon so komplex und teilweise überaltert, dass sie behutsam angegangen werden müssen, auch, um die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten. In dieser Zwickmühle ist es schwierig, innovativ zu sein, ohne dass Kosten gleichzeitig explodieren. Ein durchschnittliches EVU betreibt mehrere hundert Systeme mit zusätzlich jeweils durchschnittlich drei bis fünf Schnittstellen, die im Durchschnitt fünfzehn Jahre oder älter sind. Für die Belegschaft und den Kunden werden zwischen 1000 und 2000 digitale Services bereitgestellt. Diesen digitalen Bestand zu modernisieren oder auch nur weiterzubetreiben, benötigt viele Ressourcen.“

Und diese personellen Ressourcen haben die hiesigen Energieversorger nicht?

„Nein. Typischerweise sind zwischen 80 und 95 Prozent der IT-Mitarbeiter mit Bestandserhalt beschäftigt. Zudem stellt die Legislatur laufend neue Anforderungen, die IT-technisch umgesetzt werden müssen. Das benötigt zusätzliche Ressourcen. Für echte Marktinnovationen und den Einsatz wirklich neuer Technologien bleiben daher oft weder Zeit noch Geld – bis auf einige wenige Leuchtturmprojekte. Das durchschnittliche EVU schafft es so, nur die Bestands-IT zu betreiben und pro Jahr vielleicht drei bis fünf strategisch wichtige Projekte umzusetzen. Notwendig, um den oben beschriebenen Zustand in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren zu erreichen, wäre wohl das ungefähr Dreifache. Kurz gesagt: Bis jetzt war die IT oft nur der „Hausmeister“, nun aber soll und muss sie zum „CEO“, zum strategischen Partner der Fachbereiche werden. Bei dieser Entwicklung hängen EVU sehr vielen anderen Branchen hinterher und haben manchen Hemmschuh in ihrer Struktur.“

An welchen Stellen sehen Sie die dringendsten Digitalisierungsbedarfe?

„Die dringendsten Digitalisierungsbedarfe liegen im Netzausbau (Geoinformationssysteme 2.0, Asset-Management, Workforce-Management), bei den zentralen ERP-Systemen und deren Automatisierung (SAP/ERP Ablöse und Nutzung neuer, flexibler Entwicklungsplattformen), bei der schnellen Entwicklung neuer Produkte für den Kunden (Photovoltaik-Angebote, Netzanschluss, Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften, E-Mobility-Lösungen) sowie im Kundenservice und im Vertrieb (moderne Vertriebs- und Service-Plattformen, Kundenportale für den Self-Service). Die größten Querschnittsthemen derzeit sind Process- und Code-Mining sowie Automatisierung mit Low- oder No-Code-Plattformen. Das größte Zukunftsthema ist der Einsatz von lernenden Algorithmen. Dabei gilt: Je länger EVU mit der Digitalisierung warten, desto größer wird der Projekt- und Innovationsstau. Eine Zeit lang geht das gut, es rächt sich jedoch später massiv. Die derzeitigen Turbulenzen auf den Energiemärkten und die hastigen Entscheidungen der Politik dürfen deswegen nicht dazu führen, dass die IT-Innovationen und die strategische Digitalisierung in den Hintergrund geraten. Digitalisierung ist Teil der Lösung, nicht des Problems. Dafür gibt es freilich keine Pauschallösung – viel eher erfolgreich ist wohl eine Kombination von Maßnahmen: Investments in technisch affine Mitarbeiter, Systemerneuerung, Einbinden digitaler Schlüsselpartner, das Entwickeln einer echten IT- und Digitalisierungsstrategie, das Abschneiden alter organisatorischer Zöpfe, ein neues Rollenmodell, Anstrengungen zur Änderung der Unternehmenskultur, Einsparung bei wenig gewinnbringenden Sparten und Offenheit für neue Geschäftsmodelle.“

Wie könnte denn ein gutes Zukunftsmodell für die Energieversorger aussehen?

„Denn Energieversorger sind eigentlich prädestiniert, sich zu weitgehend automatisierten und letztlich „selbstfahrenden“ Organisationen zu entwickeln. Sie agieren in stabilen Regionen mit stabilen Kundenverhältnissen und stark reglementierten Produkten der Daseinsvorsorge. Sie liefern immaterielle Produkte, die gut zentral gesteuert werden können: von der ersten Anfrage des Kunden über die Auftragserteilung und Herstellung bis zur Lieferung und Abrechnung. Ein EVU könnte größtenteils automatisiert agieren. Doch noch immer werden Hundertschaften im manuellen Vertrieb, im Marketing und Customer Care sowie bei der Beauskunftung und Verrechnung beschäftigt. Das zeigt die nur langsame Orientierung hin zu Digitalisierung, Automatisierung und Autonomisierung. Der Fachkräftemangel und der demografische Wandel werden hier aber auch ein Beschleunigungsfaktor werden. Die EVU werden digitaler werden müssen, um die Aufgaben der Zukunft zu gewährleisten – die der Energiewende, aber auch die des Personalmangels. Der IT kommt jetzt aber – in der Praxis – oft noch keine strategische Führungsrolle zu. Daran ist sie zum Teil auch selbst schuld, das strategische Selbstverständnis fehlt. Die Entwicklung aber hat begonnen – langsam, aber stetig. Das digitale EVU der Zukunft wird eine modulare, vollumfängliche und digitale Kundenschnittstelle für den Self-Service anbieten (müssen) und kann sich dann auf die nach wie vor stark manuelle Instandhaltung und Entwicklung des Netzes konzentrieren. Es skaliert dann schnell neue digitale Produkte und Dienstleistungen im Bereich Speicher, erneuerbare Energien, E-Mobilität – und das bedeutet: IT. Alle diese Leistungen und deren Steuerung sind letztlich Software. Der Kunde betreibt dann in 90 Prozent der Fälle Self-Service und greift nur auf persönliche Betreuung zurück, wenn es wirklich nicht anders geht, wenn persönliche Qualitätsberatung gewünscht wird. Der Grundservice wird digital sein und der Kunde wird genau das zu schätzen wissen. Dieses Zielbild ist zwar noch Zukunftsmusik, aber der Trend ist nicht mehr aufzuhalten.“

Was können Politik und Wirtschaft tun, um diese Zukunftsvision zu unterstützen?

„Was EVU dringend brauchen, ist die Perspektive auf die eben skizzierte Entwicklung. Sie brauchen Partner und Begleiter, die diese Vision vermitteln und technisch vorbereiten. Digitalisierung ist bei EVU genauso wenig Selbstzweck wie in anderen Branchen. Sie muss sich messen lassen, sich bezahlt machen. Sie braucht eine Strategie, einen Plan für die vernetzte Zukunft und eine entsprechende Gestaltung. EVU müssen deswegen wegkommen von singulären Projekten, hin zu einer Gesamtstrategie in der IT und in der Digitalisierung. Dazu braucht es ein Bild, wie die Zukunft aussehen soll und wird. Was Bürger und Politik wollen, liegt auf der Hand – Digitalisierung und Dekarbonisierung. Nun gilt es, dieses in der IT zu ermöglichen und zu gestalten. Diese Herausforderung muss jetzt angenommen, die Transformation gestaltet werden und stattfinden.“

Über den Autor
Andreas Viehhauser ist Experte für die Digitalisierung in der Energiebranche und Managing Partner bei ReqPOOL, der führenden Managementberatung für Software im deutschsprachigen Raum. www.reqpool.com

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