Berlin – Die internationale Fachmesseplattform für die Elektronikzuliefererindustrie der Mobilitätsbranche „Mobility Electronics Suppliers EXPO 2019“ (MES) geht heute zu Ende. Dabei sind viele interessante Neuheiten präsentiert worden. Autonomes Fahren, Einsatz von Künstlicher Intelligenz und neue Entwicklungspartnerschaften – in Sachen Digitalisierung setzt sich auch die Deutsche Bahn hohe Ziele. Damit verändern sich auch die Anforderungen an den Einkauf.
Der Plan: ein komplett autonom fahrender Zug. „Diese Aufgabe ist sehr anspruchsvoll“, sagte Dr. Lazos Filippidis von DB Railway am zweiten Messetag. Das Thema Sicherheit spiele eine zentrale Rolle und auch der Genehmigungsprozess für den Einsatz von autonom fahrenden Zügen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr sei eine Herausforderung. Nur ein Fehler in der Technik könne zu schweren Unglücken mit vielen Passagieren führen. Daher seien die Hürden im Genehmigungsverfahren hoch.
Doch die Aufgabe sei durchaus zu bewältigen, denn Technologien wie das Europäische Zugbeeinflussungssystem (ETCS) seien bereits verfügbar. Für das autonome Fahren spielten vor allem zwei Systeme eine Rolle, so Filippidis: das perception system und das localisation system. Das perception system seien die „Augen des Zugs“ – ein kamerabasiertes System, das fortlaufend die Umgebung scannt, mithilfe von Künstlicher Intelligenz auswertet und bei Hindernissen den Zug warnt und entsprechende Maßnahmen einleitet. „Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist relativ neu im Railway Sektor“ sagte Filippidis. Das gelte auch für die „landmark based localisation“ der Züge. Im Automotive Sektor werde die satellitengestützte Lokalisierung bereits eingesetzt, im Schienenverkehr hingegen noch nicht.
Der Einkauf der dafür erforderlichen Technologien stelle Unternehmen aus der Bahn-Branche jedoch vor neue Herausforderungen: „Ein Lastenheft erstellen und damit an den Markt gehen“ – das funktioniere bei neuen Technologien nicht, da sich spezifische Anforderungen erst im Prozess ergäben und Systeme neu entwickelt werden müssten. Stattdessen setze die DB auf Entwicklungspartnerschaften und binde die Anbieter und Hersteller von vornherein in den Entwicklungsprozess mit ein.
Marktveränderungen erfordern Anpassungsfähigkeit
Auch Rainer Straub von der Siemens Mobility GmbH sieht im autonomen Fahren einen Megatrend. Die Zukunft sei elektrisch, vernetzt und autonom, betonte er in seinem Vortrag im Procurement Center auf der MES Expo. Weitere Trends in der Mobilität seien Nachhaltigkeit, Standardisierung, Life Cycle Management sowie veränderte Kundenwünsche – beispielsweise über eine App den Transport von Tür zu Tür buchen zu können. Doch was bedeute dies für die Elektronikzulieferbranche? Im Zuge der Digitalisierung wachsen sehr unterschiedliche Branchen zusammen: Der volatile Elektronikmarkt mit kurzen Innovationszyklen und die eher langfristig orientierte Bahn-Branche. Diese stelle zunächst einmal große Anforderungen an digitale Technologien: zuverlässige Einsatzfähigkeit auch bei widrigen klimatischen Bedingungen, hohe Sicherheitsstandards und regulative Anforderungen.
Doch gleichzeitig biete die Bahn-Branche auch viele Vorteile: ein stabil wachsender Markt, verlässliche politische Rahmenbedingungen, gute Planbarkeit und Kontinuität. Damit diese Bereiche zusammenwachsen könnten, brauche es jedoch vor allem Supplier Innovation, Digitalisierung und Value Enginieering, also ein möglichst hoher Nutzen unter geringst möglichem Ressourceneinsatz.
Bahn-Verkehr ja – aber nicht vor der eigenen Haustür
Die Bahnindustrie in Deutschland sei bereit für den Mobilitätswandel, sagt Corinna Salander, Professorin für Schienenfahrzeugtechnik, auf der MES Expo. Die Gesellschaft sei es jedoch noch nicht.
Mit einem dringenden Appell für mehr Engagement für den Ausbau des Schienenverkehrs hat Prof. Dr. Corinna Salander, Expertin für Schienenfahrzeugtechnik, das Dialog Forum „Schiene 4.0“ eröffnet. Wenn der Umstieg vom Straßenverkehr auf die Schiene gelingen solle, brauche es einen Mentalitätswechsel: die Bereitschaft zu Investitionen und den Rückhalt der Bürger.
Mindestens zwei Drittel der Bundesbürger sprächen sich zwar für die Verlagerung vom Auto auf die Schiene aus, sagte Salander, die an der Universität Stuttgart den Lehrstuhl für Schienenfahrzeugtechnik leitet. Doch wenn es um konkrete Projekte in der eigenen Nachbarschaft gehe, werde noch zu oft abgeblockt mit der Haltung: „Not in my backyard!“ Wenn Bürgerproteste aus Lärmschutzgründen den Güterverkehr auf der Schiene verhinderten und dieselben Güter dann auf Lkw durch denselben Ort gefahren würden, dann sei der „Model Shift“ nicht zu schaffen.
Das volle Potenzial schon heute nutzen
„Das System Bahn kann noch verbessert werden, aber wir müssen erst mal dahin kommen, dass wir das volle Potential des Bahn-Verkehrs nutzen können“, sagte Salander. Und da stelle sich die Frage: Wie bereit ist die Gesellschaft für den Wandel? Die Bahn werde zwar von den Menschen wie ein Konsumgut genutzt, doch die Bereitstellung des Systems bestehe aus Investitionsgütern – und die seien nun einmal teuer: „Man kauft sich nicht eine Lok mal eben so wie ein Auto.“ Die Industrie brauche Innovationsförderung, die Möglichkeit, Prototypen zu entwickeln und sie angemessen in Testläufen auszuprobieren.
„Das müssen wir uns als Gesellschaft leisten wollen“, betonte Salander – genauso wie den Infrastrukturausbau, bei dem es nicht nur um Investitionen gehe, sondern auch darum, „dass die Bevölkerung bereit sein muss, Bahnhöfe und Bahnstrecken vor der Haustür zu haben, und zwar in dem Maße, wie es für den Model Shift notwendig ist: Mehr Verkehr auf der Schiene bedeutet auch mehr Verkehr vor unserer Haustür.“
Aus alt mach‘ umweltschonend: Dieselzug mit Hybridantrieb
Am klimaneutralen Zug wird noch geforscht. Die Knorr-Bremse-Tochter Kiepe Electric hat eine Brückentechnologie entwickelt, die sofort einsetzbar wäre: Sie kann Dieselzüge zusätzlich mit Batterien ausstatten – und spart so CO2-Emissionen und fast ein Viertel Betriebsenergie ein.
Der Dieselzug hat viele Vorteile. Er ist relativ günstig und universell einsetzbar. Aber mit Blick auf den Klimawandel genügt er den Ansprüchen nicht mehr. Kiepe Electric habe sich die Frage gestellt: „Was machen wir mit dem, was wir haben?“, sagte Peter Bunzeck, vom Sales and Project Management. „Wie können wir den Bestand fit für die Zukunft machen?“
Die Lösung, die Kiepe Electric gefunden hat, heißt: Dieselzug als Vollhybrid in Kombination mit synthetischen Kraftstoffen. Auf Strecken mit Oberleitung fährt er elektrisch, auf kürzeren nicht-elektrifizierten Strecken über eine Traktionsbatterie, und zusätzlich bleibt ein Dieselaggregat an Bord als Rückfalloption. „Dieses Konzept kann man auf Alt- und Neufahrzeuge anwenden“, sagte Bunzeck auf dem Dialog Forum „Schiene 4.0“.
CO2-Einsparung durch synthetische Kraftstoffe
CO2-Neutralität sei zu erreichen, wenn der Zug mit Biodiesel fahre – was sich aber angesichts der „Teller-statt-Tank-Diskussion“ verbiete. Kiepe Electric setze deshalb auf synthetische Kraftstoffe, die über Power to Liquids idealerweise aus Regenerativen Energien gewonnen würden. Der Wirkungsgrad in diesem Verfahren liege zwischen 60 und 80 Prozent, zudem sei es lokal anwendbar.
Im Fahrbetrieb sei die effizienteste Methode der elektrische Antrieb über Oberleitungen mit einem Wirkungsgrad von über 80 Prozent. Der Batteriezug komme auf 73 Prozent, der Betrieb mit synthetischem Kraftstoff auf 23 Prozent (inklusive der Herstellung). Zum Vergleich: Die Brennstoffzelle habe einen Wirkungsgrad von 15 Prozent.
Drei Energiequellen – Senkung der Betriebskosten
Kombiniere man die drei verschiedenen Energiequellen Oberleitung, Traktionsbatterie und Dieselaggregat, lasse sich rund 24 Prozent Energie einsparen, sagte Bunzeck. Wo ein Dieselzug für eine Strecke hin und zurück 550 kWh verbrauche, sinke der Verbrauch auf 415 kWh, wenn eines der Dieselaggregate durch ein Batteriepaket ersetzt werde. Da auch die Betriebskosten entsprechend sänken, lohne es sich, solch ein Bestandsfahrzeug zu modernisieren, wenn es noch zehn, 15 Jahre lang fahren kann.
Eigentlich sei das Konzept für den Nahverkehr entworfen worden. Doch Kunden fragten inzwischen auch für den Fernverkehr nach. Bei einem Diesel-Fünfteiler werde dann ein Diesel-Aggregat durch einen Transformator ersetzt sowie ein Batteriepaket. Dadurch lasse sich der Dieselverbrauch um fast 60 Prozent reduzieren und der Gesamtenergieverbrauch um 14 Prozent.
Mit solchen Einsparungen lasse sich die Investition gegenrechnen, betonte Bunzeck. „Ich kann nachhaltig fahren mit meinen Bestandsfahrzeugen.“ Mit diesen Modifikationen habe auch der Dieselzug eine Zukunft. Und: sie ließen sich sofort umsetzen: „Das ist keine Raketentechnik, das ist alles bekannt.“
Auf dem Weg zum intelligenten Zug
Autonom fahrende Züge, bedarfsgerechte Wartung, Echtzeit-Informationen für die Reisenden: Mit digitaler Vernetzung und Künstlicher Intelligenz ist viel Sinnvolles für die Bahn vorstellbar. In manchen Belangen ist der Mensch den Maschinen aber noch weit überlegen.
Der intelligente Zug könnte den Bahn-Verkehr effizienter, schneller und pünktlicher machen. Das ist die Vision, an der auch Thales Deutschland arbeitet. Er bekomme oft zu hören, warum denn die Bahn immer noch nicht ohne Fahrer auf den Gleisen sei, sagte Christian Wallner, Head of Train Control Thales Deutschland. Schließlich gebe es doch auch schon autonom fahrende U-Bahnen. Diese aber seien in einem oft eingezäunten, völlig geschützten Bereich unterwegs, betonte Wallner.
Auf freier Strecke hingegen gebe es „einen ganzen Blumenstrauß an Situationen“, die ein Fahrer einschätzen muss: Bahnübergänge, Wildwechsel, Steinabbrüche auf dem Schienenkörper. Hier für Sicherheit zu sorgen, sei ein großer Aufwand. Für einen autonom fahrenden Zug brauche es einen „Train with Vision and Brain“ – also einen Zug, gesteuert von einem Algorithmus, der die Fähigkeit besitzt, vorhersehbare und kalkulierbare Entscheidungen zu treffen. Das aber ist nicht so einfach.
Komplexe Entscheidungen
Ein Beispiel: Auf den Bahn-Gleisen ist ein Hindernis. Für den Zugfahrer ist das Alltag. Eine Künstliche Intelligenz muss aber erst lernen: erstens zu erkennen, worum es sich dabei handelt (Tier oder Mensch? Bahn-Arbeiter oder Zivilisten?), zweitens einzuschätzen, wie sich die Lage entwickeln wird (Ist das Hindernis weg, wenn der Zug an der Stelle ist?), und drittens die richtige Reaktion auszulösen (Hupen? Langsamer fahren? Vollbremsung?). „Das ist ein sehr großer Lernaufwand“, sagte Wallner. „Das System ist noch nicht so weit.“
Auch das Thema Datenanalyse zugunsten einer intelligenten Reisenden-Lenkung und einer bedarfsgerechten Wartung gestalte sich komplex, wie Andreas Jonas, Chief Sales and Marketing Engineer bei Mitsubishi Electric Europe, berichtete. So wäre in Zukunft wünschenswert, wenn Reisende schon im Zug alle Echtzeit-Informationen über Anschlüsse, Ausgänge und Rolltreppen auf dem nächsten Bahnhof erhalten würden, und das möglichst mehrsprachig. Per App ließen sich die Reisenden im Grunde umgehend informieren.
Dafür aber müsse zum Beispiel von einer Rolltreppe, die nicht funktioniert, ein Signal an die Zentrale ausgehen, die die Information wiederum auf Anzeigen und die Reisenden-App weiterleitet. „Das ist eines unserer Konzepte, was wir verfolgen.“ Es sei aber noch nicht implementiert.
Datenmanagement und Schnittstellenproblematik bei der Bahn
Noch schwieriger: die bedarfsgerechte und intelligent gesteuerte Wartung. Wünschenswert wäre, wenn sämtliche Komponenten im Zug überwacht und bei einem Problem umgehend Zugführer und Werkstatt informiert würden, sagte Jonas. In der Werkstatt könne eine Big-Data-Analyse die Zughistorie und den aktuellen Einsatz abrufen. Auf dieser Grundlage werde dann entschieden, ob der Zug in die Wartung muss oder weiterfahren kann.
Für eine solche Auswertung brauche man aber nach wie vor Technikexperten. Das System lasse sich zwar trainieren, aber das Erfahrungswissen von langjährigen Mitarbeitern lasse sich „nicht so einfach in Technik gießen“. Zudem benötige man für eine solche Datensammlung gemeinsame Schnittstellen der verschiedenen Bahn-Technik-Hersteller. Das sei für die Zukunft zwingend notwendig.
Innovation des Tages: LED-Licht für autonomes Fahren
Das Carsharing-Auto aufschließen und schon erleuchtet der Wagen in der Lieblingsfarbe – egal ob pink, gelb, grün oder blau. Die Automobilbranche setzt verstärkt auf personalisierbares Ambiente-Licht und arbeitet dafür mit bis zu 800 LEDs in den Fahrzeugen. Die Inova Semiconductors GmbH geht noch einen Schritt weiter und gibt dem Licht eine Funktion. Gerade beim autonomen Fahren brauche es eine visuelle Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Passagiere zu wecken.
Rote, hell blinkende LEDs könnten beispielsweise auf Gefahren hinweisen, so Robert Kraus, CEO von Inova Semiconductors. Das funktioniere auch nach außen: An einem Zebrastreifen könnte blau-grünes Licht dem Fußgänger signalisieren, dass der autonom fahrende Wagen den Fußgänger wahrgenommen hat und ihm den Vortritt lässt. Bei den ISELED Lichtstreifen sei jede Diode einzeln ansteuerbar und dank additiver Farbmischung einheitlich in der Farbe, so Robert Kraus. Mit diesen Entwicklungen wurde die Inova Semiconductors bereits zum zweiten Mal in Folge von der Zeitschrift brand eins zu einem der 500 innovativsten Unternehmen Deutschlands gekürt.
Quelle: Messe Berlin GmbH