BGH: Eigenbedarfskündigung für Nichte zulässig – Kritik von Anwalt: «Muss man nur noch ein Tröpfchen gemeinsames Blut finden?»
Karlsruhe/Baden-Baden. Vermieter dürfen eine Wohnung auch zugunsten einer Nichte oder eines Neffen wegen Eigenbedarfs kündigen. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe am Mittwoch erstmals entschieden. Bislang war eine Eigenbedarfskündigung zugunsten von Familienangehörigen nur für Kinder, Eltern oder Geschwister des Vermieters zulässig.
Der BGH entwickelte nun seine bisherige Rechtsprechung weiter. Auch die Kinder von Geschwistern seien als Familienangehörige im Sinne des Gesetzes anzusehen. Sie seien «noch so eng mit dem Vermieter verwandt», dass es nicht darauf ankomme, ob zwischen ihnen und dem Vermieter im Einzelfall eine besondere persönliche Beziehung oder soziale Bindung bestehe, heißt es in dem Grundsatzurteil.
Der BGH gab einer Frau Recht, die im Sommer 2004 im Alter von 85 Jahren nach einem Herzinfarkt aus ihrer Eigentumswohnung in Baden-Baden in die dortige Seniorenresidenz Bellevue gezogen war. Ihre Wohnung hatte sie ab September 2004 für 1050 Euro im Monat vermietet. Im März 2008 kündigte die verwitwete und kinderlose Frau den Mietern wegen Eigenbedarfs zugunsten ihrer damals 63-jährigen Nichte. Diese hatte sich im Gegenzug verpflichtet, auf Lebenszeit den Haushalt ihrer Tante in der Seniorenresidenz zu versorgen und deren Grundpflege zu übernehmen.
Der BGH erklärte nun die Eigenbedarfskündigung für wirksam. Die Räumungsklage war in den Vorinstanzen noch vor dem Amtsgericht und dem Landgericht Baden-Baden gescheitert. Bei der Nichte handele es sich nicht um eine enge Familienangehörige, hieß es dort zur Begründung. Der 8. Zivilsenat des BGH gab nun der Revision der Klägerin statt.
In der Revisionsverhandlung hatte der Anwalt der Klägerin, Hans Klingelhöffer, betont, dass die Nichte ihre einzige noch lebende Verwandte sei – «der einzige Mensch, den sie noch hat». Zudem müsse bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Eigenbedarfskündigung berücksichtigt werden, dass die Nichte eine Pflegeverpflichtung für ihre Tante übernommen habe.
Der Anwalt der beklagten Mieter, Siegfried Mennemeyer, hatte den BGH hingegen davor gewarnt, Nichten und Neffen eines Vermieters bei der Eigenbedarfskündigung ohne Weiteres als Familienangehörige im Sinne des Gesetzes anzusehen, ohne darauf abzustellen, ob tatsächlich ein «Näheverhältnis» besteht. «Wollen Sie wirklich dieses Tor aufmachen?», fragte er die Bundesrichter des 8. Zivilsenats. Der Anwalt gab auch zu bedenken, ob nun künftig bei Verwandten dritten Grades diese Ansprüche tatsächlich enden oder ob künftig nicht auch Verwandte vierten oder fünften Grades eine Eigenbedarfskündigung zu ihren Gunsten fordern könnten. «Wo grenze ich ab?, fragte Mennemeyer und fügte hinzu: »Muss man nur noch ein Tröpfchen gemeinsames Blut finden?“
(AZ: VIII ZR 159/09 – Urteil vom 27. Januar 2010)
(Quellen: BGH in Mitteilung; Anwälte in der Verhandlung)
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