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Analyse der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen von Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner

Bielefeld (dapd-nrw). Der Geschäftsführer des Emnid-Instituts in Bielefeld, Klaus-Peter Schöppner, hat für die Nachrichtenagentur dapd das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am Sonntag analysiert. Nachstehend sein Beitrag im Wortlaut:

Die CDU-Wähler in Nordrhein-Westfalen haben ja schon vieles erlebt. Doch einen so steilen Abstieg vom Wunderkind zum desaströsen Wahlverlierer, einen Stimmenverlust von 8,3 Prozent, mit 26,3 Prozent das schlechteste NRW-Ergebnis der CDU aller Zeiten sowie den Rücktritt des Spitzenkandidaten bereits um 18.10 Uhr – so eine extreme Wahl hatte selbst in Nordrhein-Westfalen kaum jemand für möglich gehalten. Einen derart langweiligen, themenleeren, lustlosen Wahlkampf ausgerechnet des vor kurzem noch als potenziellem Merkel- Nachfolger gehandelten Energiewendeministers Norbert Röttgen war schlichtweg nicht vorstellbar.

Doch der lieferte einen Wahlkampf in Schockstarre, bei dem kaum jemand den Eindruck gewann, die CDU wolle wirklich zurück zur Macht. Lange wird die NRW-CDU am schlechtesten, nämlich überhaupt nicht wahrnehmbaren Wahlkampf ihrer Geschichte zu knacken haben. Ausgerechnet bei der Wahl, die nun über die Zukunftsstrategien der Parteien für den Wahl-Show-Down 2013 bestimmt.

Der gute Mensch aus Mülheim gegen den Zwischenstopper aus Berlin: Röttgen hatte die Wahl bereits verloren, als er die von der Opposition genüsslich hochgespielte Debatte um seine Düsseldorf-Treue nie stoppen konnte. „Bleibt er bei einer Niederlage – oder geht er wieder zurück nach Berlin?“ Keine Antwort war der Wahl entscheidender Fehler. Weil jeder wusste: Er geht!

Für Röttgen war das NRW-Schicksal nur Zwischenetappe zur Macht, ohne es den Wählern offen mitzuteilen. Seine Rolle als selbst überzeugter Taktierer fanden zwei Drittel der NRW-Wähler schlecht für die CDU. Mangelnde Glaubwürdigkeit: Nichts hassen die Wähler in einer Zeit großer Verunsicherung mehr als Tricksereien, Unaufrichtigkeit, die Instrumentalisierung des Wählers zum Eigennutz. „Ich bleibe“ – das wär’s gewesen. Aber auch ein klares „Ich gehe“ hätte NRW respektiert.

So aber wurde Schuldenabbau nie zum Thema, obwohl der hohe Schuldenstand 75 Prozent der Bürger im Lande Angst macht. Noch vor zwei Jahren dominierte die CDU in den meisten Kompetenzbereichen, auch weil damals noch die sehr populären Landespolitiker Laumann und Laschet präsent waren. Diesmal hielten sich alle Rivalen wegen der sich abzeichnenden Niederlage auffällig zurück.

Die Quittung: Noch nicht einmal bei ihrem Winnerthema „Schulden“ konnte die CDU punkten: 28 Prozent der Nordrhein-Westfalen hielten die SPD für kompetenter, die Verschuldung in den Griff zu bekommen – nur 25 Prozent die CDU. Bei Schule/Bildung waren beide Parteien 2010 noch auf Augenhöhe, nun dominierte die SPD mit 40:27 Prozent. Auch beim Problembereich „Arbeitsmarkt“ lagen die Genossen mit 39:34 vorne. Nur in der Wirtschaftspolitik konnte sich die Röttgen-CDU knapp mit 37:33 behaupten. Dennoch: Der Kandidat blieb fremd im eigenen Land. Nur für jeden dritten NRW-Wähler versteht Röttgen die hiesigen Probleme.

Wie viel bürgernäher war da Hannelore Kraft: ganz nah dran an den Sorgen der Menschen, die NRW-Versteherin, „eine von uns“, die auch im Knochenjob Ministerpräsidentin einer Minderheitenregierung die blieb, die die Wähler wollten: die Landesmutter. Kraft erwies sich als Meisterin des entpolarisierten Wahlkampfes. Ihr einziges Projekt, die „Enthartzung“ der Schröderschen Agenda, könnte nun zum wegweisenden Ansatz für die SPD im Wahlkampf 2012 werden. Herz schlägt Hirn! Besonders bei den über 60jährigen, bei denen die CDU 30 Prozent ihrer Wähler von 2010 verlor.

Natürlich kamen der Kümmererikone aus dem Ruhrgebiet Konjunktur und Zeitgeist zugute: Nur drei Zusatzmilliarden Schulden musste sie wegen guter Wirtschaftslage aufnehmen. Und da sich Wissen weltweit inzwischen alle fünf Jahre verdoppelt und damit kein Wähler mehr politische Entscheidungen als richtig oder falsch einschätzen kann, haben Vertrauen, Offenheit und Glaubwürdigkeit längst Kompetenz als wichtigste Politikereigenschaft abgelöst. Was ist der richtige Weg, die Landesschulden langfristig abzubauen? Weshalb nicht die von Kraft propagierte „vorsorgende Finanzpolitik“, die jetzt zwar viel Geld in Bildung und Soziales investiert, langfristig aber – so Krafts Theorie – NRW viel Geld für dann nicht notwendige Sozialausgaben spart?

Die „gute“ Landesmutter Kraft fördert und fördert und fördert und macht damit eine Politik des „Allen Gutes tun“ zur Staatsdoktrin. Geben ist seliger als nehmen: Da fiel kaum auf, wie Kraft das in den kommenden fünf Jahren gehen soll: Einhaltung der Schuldenbremse und gleichzeitig Wahrung ihrer (finanziellen) Wohltaten. Wer versteht NRW? Drei Viertel sagen Kraft, nur 25 Prozent Röttgen. Wer steht für soziale Gerechtigkeit? Selten war der Vorsprung eines Kandidaten mit 58:18 größer als aktuell der von Kraft in NRW. 75 Prozent waren mit Krafts Politik zufrieden, derzeitiger Spitzenwert unter den Ministerpräsidenten.

60 Prozent wünschten sich mit steigender Tendenz Kraft als Ministerpräsidenten, nur 30 Prozent Röttgen. Noch katastrophaler das Imageprofil des Bonner Juristen: Bürgernähe? 64 Prozent ordneten diese Kraft, nur 14 Prozent Röttgen zu. Bei Sympathie betrug Krafts Vorsprung 63:22. Und bei Glaubwürdigkeit dominierte die Ministerpräsidentin mit 53:18, so weit voraus wie selten ein Politiker. Immerhin hatte Kraft da Wort gehalten, wo es dem Land besonders viel kostete: Studiengebühren abgeschafft, Elternbeitrag fürs dritte Kindergartenjahr abgeschafft, ohne dass die offene Flanke Finanzpolitik auffiel.

Was für ein Kontrast war da Christian Lindner, Hoffnungsträger der „neuen“ FDP, der die Wähler mit etwas für Politiker völlig Unbekanntem überraschte: mit Prinzipientreue. Also mit einer NRW-FDP, die Gemeinwohl und Überzeugung über Pöstchen und Eigennutz stellte. Ausgerechnet zur Zeit ihrer Zwei-Prozent-Bodenbildung ließ sie die Koalition wegen deren Verschuldungspolitik platzen. Das brachte der FDP Glaubwürdigkeit und Bürgernähe zurück und mit 8,6 Prozent den Wiedereinzug in den Landtag. Und Lindner zusätzlich den Ruf des „Magiers für die ganz besonderen Aufgaben“. Selten konnte ein Politiker schneller stärker verdeutlichen, dass Grundsatzpositionen und Haushaltskonsolidierung erfolgreich sein können. Gerade für CDU-Wähler wurde Ordnungspolitik-Ikone Lindner interessant, so dass sie ihren Frust über den verschlafenen CDU-Wahlkampf in NRW durch Wahl der FDP loslassen konnten.

Jeweils 10 Prozent der CDU-Wähler von 2010 votierten diesmal für FDP und SPD. Für Mehrheiten der NRW-Wähler steht Lindner für die „neue“ FDP, wird der neue FDP-Star die Bundes- FDP entscheidend verändern. Da ist allerdings noch viel zu tun: Denn ausgerechnet in der Vorwahlwoche fielen die Liberalen in der Emnid-Sonntagsfrage bundesweit wieder auf vier Prozent zurück. An Kubicki und Lindner, den Architekten der FDP-Renaissance, führt nun auch auf Bundesebene kein Weg vorbei.

Im Gegensatz dazu ging es für die Grünen bergab. Vor einem Jahr lagen sie noch bei 20, nun nur noch bei 11,3 Prozent. Weil politische Erfolge überflüssig machen, wurden die Grünen nun Opfer ihrer eigenen Erfolge: Studiengebühren abgeschafft, Nichtraucherschutz gestärkt, in der Energiepolitik Recht behalten, Schulfriede erreicht. Und doch blieben sie nur SPD-Anhängsel, weil sie keine alternative Machtoption aufwiesen, immer älter werden und für viele zum politischen Establishment gehören. Aktuell haben die Grünen im Grunde keine politischen Visionen mehr und sind damit weder jugendlich noch Protestpartei.

Dagegen bekamen die Linke nun auch in NRW mit 2,4 Prozent die Quittung für ihr desaströses Erscheinungsbild. Grund der herben Verluste war ein zweiseitiger Angriff ihrer Wähler: Sie verlor fast ein Viertel an die „enthartzte“ SPD und etwa gleich viele „Protestwähler“ an die Piraten.

Die NRW-Wahl wird die politische Konfrontation bis zur Bundestagswahl in 16 Monaten brutal verändern. Weil die SPD nun ein Thema gefunden hat, das ihr offensichtlich neuen Schub verleiht: Hannelore Hollande, die dem ihrer Meinung nach rabiaten und konjunkturschädlichen Sparkurs nun die mitfühlende Unterstützungspolitik gegenüberstellt. Was Investitionen in Bildung und Soziales kosten, wird investiert bzw. den Reichen genommen. Haushaltskonsolidierung dauert dann eben etwas länger.

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